Eine Care zentrierte Welt: Träume und ein bisschen Theorie
Hallo Liebe Freund*innen und Unterstützer*innen,
im März melden wir uns mit einem etwas anderen Newsletter bei euch. Diesmal schreiben wir euch ein paar träumerische Zeilen,wie eine Welt aussehen könnte, in der Care und gegenseitige Fürsorge im Zentrum unseres Handelns stehen. Dieser Exkurs wirft ein paar Fragen auf, an denen wir bei Gemeinwohlwohnen gerne arbeiten und forschen. Heute gibt es ein paar knappe Gedanken dazu und eine kurzen Ausblick, welche Gruppen noch an diesen Themen arbeiten und uns zur Zeit inspirieren. Natürlich ist dies keine vollständige Aufzählung! Wir freuen uns auch sehr, wenn ihr uns von spannenden Orten und Projekten erzählt. Wenn ihr tolle Projekte und Menschen kennt die zum Thema Care arbeiten schreibt uns gerne mit ein paar Worten, warum ihr die toll findet.-
Zuerst nimmt euch Samu mit auf eine forschende Reise:
Die Tür öffnet sich und ich rolle hindurch. Hinein in einen gläsernen Aufzug einer anderen Zeit. Ich träume von einer fern vertrauten Welt.
Musik erklingt aus den oberen Stockwerken eines Bürohauses. Auf dem Dach genießen zwei kranke Menschen in Roll-Betten die Sonne. Im Foyer probt eine Theatergruppe. Drei Handwerkerinnen verwandeln den vierten Stock in Wohnraum. Das ehemalige Großraumbüro im dritten Stock wurde zur Werkstatt und Kunstatelier umgebaut: Hier basteln die Alten und Kinder Deko für das große Jahresfest. Im Keller findet eine Versammlung einer Gruppe Jugendlicher statt, die beratschlagen, ob sie in ein leerstehendes Büro in der Nähe umziehen wollen.
Der gläserne Aufzug, in dem ich sitze, beginnt empor zu steigen. Schwebt Stockwerk um Stockwerk den Himmel entgegen. Ich schaue herab auf die schrumpfenden Häuser, die Straßen, die Menschen.
Wie sähe unsere Welt aus, wenn Care im Mittelpunkt alles Tuns stünde? Wenn nicht Leistung und Lohnarbeit, sondern das Gesund werden der Kranken, das würdevolle Sterben, das Spielen der Kinder die größte Aufmerksamkeit bekommt? Wenn wir weniger über Gewalt und Krieg und mehr über die Heilung von Traumata reden? Wenn nicht das Wachstum der Wirtschaft, sondern die Pflege unserer Beziehungen größte Wertschätzung erfährt?
Auf einem Platz kochen drei junge Männer das Essen ihrer Herkunftsländer. Sie bepacken ein Lastenfahrrad, um das Essen all jenen zu bringen, die ihre Wohnung nicht verlassen können. Das Gemüse stammt aus einem Garten drei Straßen weiter. Mehrere befreundete Familien haben dort eine Parkgarage in ein Gewächshaus verwandelt.
Im Zentrum der Stadt leuchten die Lichter von Zelten, Marktständen, Küchen und Bühnen: Tausende Lichter jener großen Versammlung im Zentrum, die niemals endet. Menschen kommen und gehen, fragen um Hilfe, unterstützen einander.
Immer höher trägt mich der Aufzug, lässt die Stadt als einer von vielen leuchtenden Punkten zurück. Von hier sieht die Welt wie ein bunter Flickenteppich aus. Leuchtende Adern und Knoten überziehen den Planeten wie ein Pilzgeflecht.
Warum müssen Menschen isoliert in Heimen und Lagern sterben? Warum fließt so viel Geld zu Polizei, Militär, Chef-Posten und High-Tech-Arbeitern während Pflegekräfte, Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen so wenig bekommen? Warum werden wir unterteilt in Gruppen von nützlichen und unnützen Menschen?
Auf einmal ruckelt der Aufzug, bleibt stehen und ein rotes Licht blinkt auf. Ich schließe die Augen und der Aufzug fährt rasend schnell wieder hinab. Ich falle herunter auf den Boden der Tatsachen zurück in unsere Zeit, unsere Wirklichkeit.
Ich stehe in der Baulücke der Metzgerstraße 5A. Hier, zwischen Jugendzentrum und Wohnblock, bauen wir ein Haus, in dem Care im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wird. Hier ist ein Anfang: Einer von Vielen. Hier darf ein Samen wachsen für eine Welt, in der wir uns um einander kümmern.
Und alles weitere? Wir werden es herausfinden…
“Wirtschaft is Care”
Nicht nur wir bei Gemeinwohlwohnen widmen uns einer Zukunft, in der die Sorge umeinander im Zentrum steht. Es gibt viele Gruppen, die sich für eine lebenswerte Zukunft abseits von Profit Logiken einsetzen. Ein Sammelband über Care Initiativen im deutschsprachigen Raum ist “Wirtschaft neu ausrichten„, herausgegeben von Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorious und Feline Tecklenburg. In dem Buch werden verschiedene Gruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgestellt, die sich praktisch, wissenschaftlich und politisch mit dem Thema Care befassen.
Ganz grundlegend stellt das Buch die Frage: Was ist eigentlich unsere Wirtschaft? In dem Begriff der Ökonomie steckt ursprünglich das griechische Oikonomia, “die Lehre vom guten Haushalten”. Jeder gut funktionierende Haushalt hat die Aufgabe, die Bedürfnisse aller Angehörigen bestmöglich zu befriedigen.
Care/Fürsorge bleibt im gängigen Wirtschaftssystem unsichtbar (und oft unbezahlt)
Was sind die grundlegenden Bedürfnisse, damit der Haushalt gut funktioniert? Essen, Gesundheit, soziale Beziehungen. Das ist ziemlich universell. Leider werden gerade diese Aspekte oft vergessen, wenn es um die “Wirtschaft” geht. Im Buch wird die Arbeit der Schweizer Ökonomin Mascha Madörin vorgestellt, die beschreibt, wenn wir von einem Wirtschaftsmodell ausgehen würden, dass konsequent alle Fürsorge-Tätigkeiten berücksichtigen würde, wäre das der größte Wirtschaftssektor. Zumindest wenn die geleistete Arbeitszeit gemessen wird. In der Schweiz sind 70% aller geleisteten Arbeitsstunden dieser Fürsorgearbeit zuzurechnen. In Deutschland ist es etwas weniger, aber immer noch über 60% aller Arbeitsstunden. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/gabriele-winker-solidarische-care-oekonomie-mein-ziel-ist-100.html)
Ein großes Problem der gängigen Wirtschaftswissenschaften ist, dass diese Arbeit nicht als Teil der Wirtschaft betrachtet wird. Paradoxerweise wird diese Arbeit dann als Teil der Wirtschaftsleistung gesehen, wenn sie professionalisiert durchgeführt wird. Wenn aber zum Beispiel Pflege- oder Erziehungsarbeit unbezahlt von Angehörigen durchgeführt wird, ist sie nicht Teil dieser gemessenen Wirtschaftsleistung.Hinzu kommt, dass diese Arbeit unverhältnismäßig viel von Frauen verrichtet wird, oft unbezahlt, oft unter schlechten Arbeitsbedingungen.
Die Krankenhausbewegung als Beispiel für die Krisen & Kämpfe der bezahlten Care-Arbeiter*innen/im Bereich der professionalisierten Pflege
Selbst wenn die Pflege aber bezahlt wird, heißt das noch nicht, dass dadurch alles gut ist. Nicht erst seit Corona steckt die Pflege in einer Krise. Die Gewinnorientierung im Gesundheitssystem führt zu Personalmangel und Unterversorgung. Schätzungen zufolge werden bis 2030 500.000 Pflegekräfte fehlen. Die Krankenhausbewegung ist ein gewerkschaftlicher Zusammenschluß von Pflegenden die unter anderem im Schwarzbuch Krankenhaus die Zustände in deutschen Krankenhäusern darstellen.
Gleichzeitig ist die Krankenhausbewegung auch ein Beispiel wie Selbstorganisation und Arbeitskämpfe dazu beitragen tatsächliche Verbesserungen zu erreichen. Der 30 tägige Streik in Berlin 2021 hat zu erfolgreichen Tarifverträgen in 3 Berliner Krankenhäusern geführt. (Zum Nachhören auch hier)
Ein weiteres positiv Beispiel aus des dem Buch ist das Poliklinik Syndikat. Das Syndikat setzt sich für lokale Gesundheitszentren ein, in denen Versorgung durch solidarische lokale Gesundheitszentren einsetzt, in denen die Versorgung an den Menschen ausgerichtet wird. Das Syndikat hat mittlerweile mehrere Ortsgruppen in ganz Deutschland.
In München gibt es mit dem Gesundheitskollektiv eine Gruppe, die sich mit einem ganz ähnlichen Konzept beschäftigt.
Wie gemeinschaftliches Wohnen zu einer care-zentrierten Welt beitragen kann
Ebenfalls werden Gruppen genannt, die sich mit der Verschränkung von Care und dem Wohnen in Gemeinschaft beschäftigen. Michaela Moser schreibt im Kapitel “Wohnen ist politisch“, wie aus ihrer Perspektive Wohnprojekte zu einer care-zentrierten Zukunft beitragen können.
Gemeinschaftliches Wohnen erlaubt ganz andere Care Infrastrukturen, als das Wohnen in abgetrennten Single, Paar, oder Familien Wohnungen. Und wir denken auch, dass Care sehr schwer geplant werden kann. Care muss auch anpassungsfähig sein, resilient mit Schocks umgehen können. Eindrucksvolles Beispiel aus dem Text ist die Lösung die die Gemeinschaft während Corona Lockdowns gefunden hat. In der Situation, in der viele vor der Herausforderung standen wie sie mit Home Office und Kinderbetreuung im isolierten Umfeld umgehen konnten hatte die Gemeinschaft die Möglichkeit anders darauf zu reagieren. Der Gemeinschaftsraum wurde kurzer Hand in einen Ort zu Kinderbetreuung umgewandelt
“Im gemeinschaftlichen Wohnen gibt es viele Anknüpfungspunkte zu allen Aspekten der wachsenden Care-Bewegung, von der Neubewertung und-verteilung der Sorgearbeit im engeren Sinne bis hin zum politischen Einsatz für den ökologisch notwendigen Systemwandel. Deshalb sollten die derzeit noch eher als Nischenangebote erscheinenden Wohnprojekte in Zukunft nicht mehr einer kleinen Minderheit vorbehalten bleiben.”
Mit diesen Worten beschreibt Michaela Moser das Potential der Möglichkeiten, welches das Gemeinschaftswohnen eröffnet.
In einem gemeinsamen Wohnprojekt haben wir die Möglichkeit, Care kollektiv zu gestalten und auf andere Art und Weise zu leben. Wir haben die Möglichkeit Care in unserem Haus, den Raum und die Bedeutung einzuräumen, die es tatsächlich hat, als ein essentieller, überlebenswichtiger und kostbarer Teil unseres (Zusammen)-Lebens. Und ehrlich gesagt: wir können es kaum erwarten.
Denn, wie Cole Arthur Riley schreibt: “Collective Care is our Calling!” (Kollektive Fürsorge ist unser Ruf!)
Herzliche kollektive Grüße,
Oliver, Pia, Samu